Wiesław Kielar – Anus Mundi

Wiesław Kielar – Anus MundiFünf unendliche Jahre, die zerrten, ihm alles abverlangten, ihn prägten, schulten, abhärteten und stärker machten. Er, Wiesław Kielar, hat sie irgendwie überlebt. Fünf Jahre an einem Ort der nicht nur der Vorhof zur Hölle war, sondern die gottlose, verdammte Hölle auf Erden selbst. Am Arsch der Welt, am „Anus Mundi“, wo sich Fuchs und Hase nicht „gute Nacht“ sagen würden, sondern „lebe wohl, schön dich gekannt zu haben“ – in Auschwitz.

Als einer der ersten 759 Häftlinge wurde Wiesław Kielar (Nummer 290) nach Auschwitz gebracht und erlebte damit vom bitteren Anfang bis fast zur erlösenden Befreiung alles hautnah mit. Natürlich, ein Grund für sein Überleben war sicherlich das unverbrauchte Alter (Anfang 20) gewesen, aber Kielar entwickelte während der KZ-Zeit ein Gespür, das ihm seine Existenz sicherte. Der Pole kam schnell dahinter, wie er mit den Blockältesten sowie den Kapos (Funktionshäftlingen), die alle malträtierten, zu „Sport“ trieben und viele auf dem Gewissen hatten, umzugehen hatte. Kielar versuchte, sich im Arbeitslager Beschäftigungen zu suchen, die angesehen waren. So arbeitete er als Schreiber, Leichenträger, Krankenpfleger oder Handwerker – Positionen, die ihn durch seine Kontakte einen gewissen Schutz boten, welcher manchmal dann aber jedoch auch durchdrungen wurde.

Keineswegs schwer auszurechnen, dass der Aufenthalt zu Beginn mit dem Gewöhnen an das Lagerleben schon fast mit dem Tod endete. Zwischen Muselmänner, Menschen, die bereits körperlich am Ende waren, Läusen, Flöhen, Wanzen, Ratten, Hunger, Krankheiten, Dreck, Selektionen, Apelle und schikanierenden SS-Offizieren (Gerhard „Henker von Auschwitz“ Palitzsch) schwebte Kielar. Hatte dabei jedoch ein funktionierendes und verlässliches Netzwerk, das ihn oft aus misslichen Lagen befreite. Kielar schildert seine Geschichte so intensiv und ausführlich, dass sie voller Authentizität strotzt.

So beschreibt der Osteuropäer, wie er mit seinen Kollegen im Leichenkeller saß, auf der Mundharmonika spielte, umringt von Kadavern, „die auf uns gar keinen Eindruck machten“, Kartoffeln briet: „Es herrschte eine nette Stimmung wie bei einem Pfandfinderfeuer.“ Mit dem ganzen Grauen war Kielar früh vertraut, zumindest schildert er es so, ohne dass es psychologische Auswirkungen auf ihn machte, ihn dagegen abstumpfen ließ. Immer wieder kommen unheimliche Szenen vor, die Schauder hervorrufen, zum Beispiel als Kielar die Situationen wiedergibt, als er Leichen abtransportieren musste.

Die Eingeweide traten bei diesem Toten heraus. In Eile sammelten wir sie mit den Händen ein, so warm und dampfend, wie sie noch waren. Als wir nach oben gingen, strömte das Blut von der schräggestellten Trage. Wir arbeiteten ohne Atempause. Runter, rauf, runter rauf – es ist schwer zu sagen, wie oft. Nur das Exekutionskommando wechselte sich ab. Der nächste! Wieder einer Salve. Der nächste, der nächste, der nächste! Die Schüsse hallten mit eintönigem Echo um die benachbarten Wände der Gebäude. Feuer! Der nächste! In die Särge! … Es gab schon keinen Platz mehr, wie packten also zwei in einen. »Weg mit diesem Dreck!« trieb uns ein SS-Mann an. »Los, schneller, ihr blöden Hunde!« In den Ohren summte es, das Herz schlug wild. Der süßliche, Übelkeit erregende Geruch des Blutes würgte im Hals. Die Hände und Füße wollten nicht mehr gehorchen, der Körper war fast ohnmächtig vor Müdigkeit. Wie viele denn noch? (S. 75)

Unten war es stickig, heiß und es stank nach Kadaver. Alle Zellen waren geöffnet, und darin sahen wir die stehenden, zu einer Masse zusammengepressten Leichen der Vergasten. Wo sich die Kranken befunden hatten, war es etwas leerer. Einige Leichen lagen direkt vor der Tür, aufeinandergefallen. Mit ihnen beganngen wir also. Die ineinander verklammerten Körper waren schwer voneinander zu trennen. Wir zogen sie einzeln auf den Korridor, von wo sie die anderen die Treppe hochtrugen. Je tiefer wir in die Zelle kamen, desto schwerer wurde es, die Leichen herauszuholen, die einen makabren Eindruck machten. In kleinen Zellen zusammengepfercht, standen sie, obwohl bereits tot, in dergleichen Haltung, in der sie sich wahrscheinlich vor zwei Tagen befunden hatten. Die Gesichter waren blau, fast violett-schwarz. Weit geöffnete Augen drohten fast aus den Höhlen herauszutreten, die geöffneten Lippen zeigten weit ausgestreckte herabhängende Zungen, die fletschenden Zähne gaben ihren Gesichtern ein unheimliches Aussehen. […] Am schwersten war es auf den Stufen. Die schweren Köpfe schlugen mit dumpfen Schlag gegen die Stufen, die weich gewordenen Extremitäten blieben an den herausragenden Stufen und Schwellen hängen, was uns die Arbeit sehr erschwerte. (S. 92/93)

Immer wieder trat bei den Insassen eine allgemeine Resignation auf. „So oder Krematorium!“, war die Devise, aber auch ein Synonym für die Freiheit, wie auch immer das verstanden werden kann – eher Freiheit durch das erlösende Verscheiden. Die Todesursachen der Getöteten wurden verpfuscht, wie Kieslar bei seiner Tätigkeit als Schreiber bemerkte. Erschossener sei an Durchfall verstorben, notierte Kieslar. Mit der Spritze Getötete hätten Nierenentzündungen gehabt.

Kurz gesagt, es war eine perfide Fälschung der Sterbeurkunden, die Verwischung der Spuren von Massenmorden, die an den wehrlosen Häftlingen begangen wurden. (S. 214)

Humanität an diesem Ort? Rhetorische Frage! Jüdische Häftlinge wurden in Sonderkommandos eingeteilt, unter dem niederträchtigen Vorbehalt, dass sie am Leben blieben, wenn sie ihre Arbeit (macht frei) ordentlich verrichteten. Natürlich Utopie! Sie wurden zu Todesengeln, zu Sensenmännern. Zu solchen, die ihre Artgenossen ausloschen – sicherlich auch unter dem Aspekt, dass ihnen kaum eine andere Wahl blieb. Am Ende wurden sie jedoch trotz der Versprechungen selbst zu Opfern, von der Todesmaschinerie verschluckt.

Dann führten sie sie in die Gaskammern, von wo nach einer Weile nur noch das Stöhnen und die Schreckensschreie der Sterbenden zu hören waren. Die Angehörigen des Sonderkommandos waren keine Menschen mehr. Sie wurden aller menschlichen Gefühle beraubt, die gleichzeitig mit ihren Liebsten und ihren Herzen am nächsten stehenden Personen verbrannten – sie waren abgehärtet gegen das menschliche Leid. Der Tod der anderen machte auf sie keinen Eindruck mehr. Sie wussten, dass die Fetten besser als die Mageren brannten, dass es mit den Transporten, die aus dem Westen kamen, weniger Schererei als mit den örtlichen Transporten gab. Sie glaubten einfach an diese Handtücher und Seife. Die Angehörigen des Sonderkommandos wussten sehr genau, dass sie so lange am Leben blieben, wie sie etwas zu verbrennen hatten, weil sie so lange noch notwendig waren. Von den Gefühlen, die sie noch kannten, blieb ihnen lediglich die Angst vor dem eigenen Tod, eine umso größere Angst, je mehr sie die ganze bestialische Maschinerie der Tötung kennengerlernt hatten. Sie kannten gut den Preis für ihr Leben, deswegen gab sich jeder von ihnen einer Täuschung hin, er würde am Leben bleiben, wenn er ordentlich, ohne Fehler arbeitete und alles täte, was ihm befohlen wurde. Irgendwo, tief im Herzen, ganz tief drin, glomm jedoch die Flamme des Hasses, vorläufig gedämpft durch die Angst um das eigene Leben. (S. 248)

Da er zu den ersten Häftlingen gehörte, sich länger bewiesen hatte, wurde er gekannt, mehr akzeptiert und gar teilweise mit Respekt behandelt. Irgendwann hatte das Leben Kieslars bei abnormen Zuständen im Lager eine gewisse Normalität erreicht. Den abertausenden Menschen, die in die Wäldchen zum „Duschen“ geschickt wurden, war sowieso nicht mehr zu helfen. Wie auch?

Die einzige Spur, die von ihnen blieb, war dieser widerliche, süßliche, erstickende Rauch, der wie mit einem Trauerschleier Hunderte von niedrigen Baracken bedeckte, in denen mehrere tausende Häftlinge wohnten und, unterjocht von einer Handvoll von bewaffneten und rücksichtslosen Übermenschen, darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen. (S. 247)

Stattdessen florierte die sogenannte Börse, der Schwarzmarkt, durch das Effektenlager „Kanada“. Der Handel mit Wertgeständen der Vernichteten nahm zu. Zigaretten, Schmuck, Alkohol und Geld wurden gegen größere Lebensmittelrationen getauscht. Es kam zu Romanzen, die das Frauenlager ermöglichte. Zu Fluchtplänen, zu deren Umsetzung Kieslar sich nicht traute, stattdessen seinem besten Freund Edek samt seiner Liebhaberin Mala gewähren ließ, die daraufhin aufgespürt und öffentlich im Lager erhängt wurden – was dem Autor ernsthaften Depressionen zuführte, die die Freiheitsgedanken minderten.

Schließlich nach Verlegungen in andere Konzentrationslager, Oranienburg, Porta Westfalica, wird Nazi-Deutschland besiegt, Hitlers Macht niedergeschlagen – dem Spuck eine Ende bereitet. Damit verbunden, Wiesław Kielar von seinen Fesseln befreit.

Was für ein herrliches Gefühl! Die Freude drohte unsere Herzen zu zersprengen. Vor unseren Augen bereitete sich die in ihrer bunten Schönheit verlockende Welt aus, bis jetzt unerreicht und unsichtbar. Die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne hauchten die Reihen der blühenden Kronen der am Straßenrand stehenden Apfelbäumchen rosig an. Sie bildeten über unseren Köpfen einen nach Frühling duftenden zarten, aus Blütenblättern gewobenen Schleier. Die Liederworte kamen von selbst auf die Lippen: Sei gegrüßt, Maienmorgen! (S.407)

Wiesław Kielar hätte die über 90 Kapitel mit voller Vergeltung füllen können. Hätte seine Rachsucht, die, gelinde gesagt, ihre Berechtigung hätte, transportieren können. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er verzichtet darauf, Abrechnungen führt er nur indirekt durch. Scheinbar ging es ihm einzig und allein darum, zu demonstrieren, wie es in Auschwitz tatsächlich war. Dass nur diese Intention für ihn zählte, er sich auf diese fokussierte, statt zu richten, merkt man an den durchdringenden Darstellungen, die kaum Perzeptionen aus dem KZ auslässt.

„Anus Mundi“ ist mit seiner Monumentalität, den präzisen Beschreibungen, ein gewaltiges Monument von Zeitgeschichte. Die Zahl der KZ-Überlebenden nimmt leider langsam ab. Wurden ihre Erzählungen nicht festgehalten, werden sie irgendwann verschwunden sein – Wiesław Kielars dagegen nicht. Verarbeitete Marian Kołodziej seine Zeit in Auschwitz in kunstvollen Zeichnungen, die eindringlicher die Gräuel nicht schildern können und meiner Meinung nach zum Weltkulturerbe ernannt werden sollten, projektiert Kielar seine krassen Eindrücke literarisch. In allen Facetten hat Wiesław Kielar die deutlich fühlbare Extreme von Auschwitz eingemeißelt, ohne Pathos, ohne Urteile, dafür mit rücksichtsloser Realität – „Anus Mundi“, ein wahnsinnig wichtiges, unvergängliches und unverwesliches Werk, das stets einen Fortbestand haben sollte!

5 thoughts on “Wiesław Kielar – Anus Mundi

  1. Danke für diese sehr beeindruckende Rezension eines Buches, von dem ich bisher noch nie gehört hatte. Es wandert direkt auf meine Wunschliste, da mich Bücher mit „dieser Thematik“ generell interessieren. Ich bin sehr gespannt auf die Lektüre. 🙂

    • Bitte, bitte 🙂 Es ist schon ein sehr harter Tobak und nichts für schwache Gemüter – wie man es, denk ich, aus den von mir zitierten Passagen rauslesen kann. Habe länger gebraucht, es zu überwinden und es als Vorbereitung auf meinen Auschwitz-Besuch gelesen (dazu an einer anderen Stelle mehr). Viel Stoff zu „diesem Thema“ ist ja vorhanden, aber gerade was die Zeitzeugenberichte angeht, ist das meiner Meinung nach das vielleicht einer der besten, gar das beste Überlebenden-Werk dazu!

  2. Eine Rezension, die unter die Haut geht – wie das Buch selbst. Ich habe schon viele Texte zu dieser Thematik gelesen, die bekannten wie Primo Levi, Elie Wiesel, Imre Kertesz, Jorge Semprún, aber auch viele andere. Es ist immer wieder eine schwere Lektüre, die einen mitnimmt und erschüttert, aber sie ist eben auch wichtig, weil sie uns nicht vergessen lässt.

    Anus Mundi kannte ich noch nicht, ich danke dir vielmals für den Hinweis. Wenn du dich häufiger mit dieser Thematik auseinandersetzt, dann könnte der Gemeinschaftsblog Jüdische Lebenswelten etwas für dich sein, dort haben wir bereits einige Rezension zusammengetragen, auch zum Bereich Holocaust-Erfahrungen. Vielleicht magst auch du selbst entsprechende Artikel zu Verfügung stellen? Blogger wie mara, Bibliophilin, flattersatz, Die Klappentexterin und andere haben schon ihre Rezension dort veröffentlicht.

    Wäre schön, wenn wir auch dich unter den Gastautoren begrüßen dürften, damit das Projekt stetig wächst und so viele Stimmen wie möglich vereint.

    Liebe Grüße,
    caterina

    • Klingt sehr interessant und sinnvoll! Werde mir das Projekt mal in Ruhe anschauen und mich wieder melden…

      Gerade bin ich an einem Punkt angekommen, wo mir diese Thematik gerade zu viel wird und ich mich durch diverse Erfahrungen davon ablenken muss. Prinzipiell beschäftige ich mich schon regelmäßiger damit.

      Danke fürs Kommentieren und wiederum verweisen. Lasse von mir hören!

      • Lass dir ruhig Zeit. Wenn dir das Projekt zusagt, gib einfach Bescheid, dann können wir uns gemeinsam überlegen, ob wir diese oder künftige Rezensionen von dir dort parallel veröffentlichen. Und wenn nicht, ist’s auch nicht schlimm, keiner wird gezwungen ;). Viele Grüße

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