Tomasz Różycki – Bestiarium

Wenn es abends etwas länger wird, bist du dir meist nicht bewusst, welche unerfreulichen Folgen der Morgen danach mit sich bringt: Durst, Nervosität und Unwohlsein. Du vegetierst so vor dich hin, wartest darauf bis du wieder die Alte/der Alte bist und dass dieser Tag endlich ein Ende nimmt. »Nie wieder Alkohol!« Manchmal verlierst du die Hose, einen Schuh und fragst dich, mit wem du eigentlich das unbekannte Bett teilst, denn diese Person hast du bis eben schließlich nie gesehen. Tja, hättest du mal verzichtet! Aber nein, deine Gier … Vor ungeklärten Tatsachen steht auch der Protagonist dieses Romans, die sechs (journalistischen) W-Fragen (Was?, Wer?, Wo?, Wann?, Wie?, Warum?) kann er nach einem Umtrunk nicht beantworten. Die Welt gerät aus den Angeln. Nichts ist, wie es mal war.

Tomasz Różycki – Bestiarium

Seinerzeit habe ich mal ein Seminar mit dem Titel »Kreatives Schreiben« besucht. Der Dozent erklärte uns, dass nichts einfacher wäre: Du fertigst irgendeine Geschichte an und lässt die Blase am Ende platzen, indem du offenbarst, dass alles was darin passiert ist, der Inhalt eines Traums war. Fertig. Aus. Eine einfachere finale Lösung für eine Erzählung gäbe es nicht. Denn die Figur öffne schließlich irgendwann die Augen, schüttle sich ganz kurz und alles wäre wieder wie früher. Dass sich die Handlung in »Bestiarium« aus Einbildungen speist, wird schnell deutlich: »Ich war im Traum und alles Absurde wurde möglich, das Absurde wurde Normalität.« Entsprechend wählt der polnische Autor, Tomasz Różycki, laut der Feststellung meines Dozenten, eine Vorgehensweise, die auf dem ersten Blick simpel ist. Interessanter ist jedoch zu erfahren, was in dem fiktiven Zustand geschieht.

Betreiben wir also mal Faktensicherung – oder versuchen es zumindest. Der Ich-Erzähler hat stark gesoffen, meint, an einem unbekannten Ort aufzuwachen. Erschafft sich dann ein heiteres Szenario aus Phantasiegebilden. Er stampft mit des Kaisers neuen Kleidern durch das Erdachte. Begegnet dort unter anderem einigen Verwandten, einer Oma, Cousinen und zwei Onkeln. Um welche Stadt es sich wohl handeln könnte, wird nicht ganz geklärt (Opole?, Wrocław?). Dort stößt er auf einen Untergrund, angeführt von Onkel Jan, der sich in den Kellern sortiert und aus dem vermeintlichen Abschaum der Gesellschaft besteht: Kriminellen, Drogenkranken, Verrückten. Vom Himmel schüttelt es ständig und pausenlos. Eine Sintflut bannt sich an, als Strafe für die Verfehlungen der Menschheit: »Vielleicht muss man die Erde überfluten und alles neu angehen?« Wie es Noah im Alten Testament vorgemacht hat, wird eine Arche (aus Müll) zusammengeschustert, die vor dem Wasser retten soll. Dabei wird immer deutlicher, dass der Niederschlag kein Produkt der Natur ist, sondern künstlich in einem »Kommandozentrum« erstellt wird. Klingt ziemlich irre, ist es auch.

In einem Abenteuer, das durch Hirngespinste losgelöst wird, ist aber rein gar nichts sicher, sondern mehr alles verschwommen. Anders als bei Hans Falladas »Der Trinker«, Jack Londons »König Alkohol« oder Charles Jacksons »Das verlorene Wochenende«, prägnanten Werken der Suchtliteratur, geht es dem Autor nicht darum, darzulegen, welche langfristige Folgen eine Alkoholabhängigkeit bedeutet. Der Alk sorgt hier vielmehr für einen fiebrigen Zustand, der zu unterschiedlichen Interpretationen einlädt, gewisse Vergleiche zu Wenedikt Jerofejews »Die Reise nach Petuschki« lassen sich freilich ziehen.

Gefüllt jegliche polnische Hausmannskost (Barschtsch, Bigos und so weiter) wird erwähnt und es erfolgen immer wieder Einblicke in die polnische Kultur. Wenn der Protagonist mit seinem stets alkoholisierten Onkelchen, der eine Mütze trägt, die Funken ausstößt, durch die Keller der ausgedachten Stadt streift, begegnet ihm immer wieder die Vergangenheit, verheimlichte Dinge aus der kommunistischen oder nationalsozialistischen Epoche des Landes tauchen auf. Er trifft auf eine Frau, die stets jeder lecken will, die jedoch gezeichnet, ein Kunst-Produkt ist. Er trifft auf eine andere Frau, die ihn richtig geil werden lässt, Essensgerüche versprüht und die um jeden Preis ihre Schuhsammlung vor der Flut retten will. Er trifft auf ein Nilpferd, andere Geschöpfe und Kreaturen. Und natürlich spielt immer bei diesen Darstellungen die Kritik eine Rolle, so scheint es zumindest, die Kritik an der polnischen Politik sowie der Gegenwart. Darüber hinaus demonstriert der Verfasser (neben dieser Prosaarbeit auch ein Lyriker), dass er es mit der Sprache kann, nicht jede Assoziationen oder Metapher lässt sich aufdröseln, was manches Mal etwas zäh wirken kann.

Darf man die Tastatur bedienen, wenn man meint, die vorliegende Lektüre nicht gänzlich verstanden zu haben? Darf man! My blog is my castle! Kann man eine Phantasmagorie überhaupt komplett richtig deuten? Jein! Aber Sigmund Freud hätte bestimmte seine Freude daran. Ansonsten handelt es sich bei »Bestiarium« um ein gewöhnungsbedürftiges Werk und um ein sprachliches Reagenzglas, das mit den Zutaten rumprobiert, wenn auch trüb, nicht ganz durchsichtig ist. Unsicher und verwirrst stocherte ich regelmäßig im Nebel. Vielleicht muss man ja bei der Lektüre selbst etwas intus haben. Wären da nicht die altbekannten Kopfschmerzen danach.

[Buchinformationen: Różycki, Tomasz (2016): Bestiarium. edition.fotoTAPETA. Aus dem Polnischen von Marlena Breuer. 208 Seiten. ISBN: 978-3-940524-47-8]

6 thoughts on “Tomasz Różycki – Bestiarium

  1. Lieber Herr Muromez, wollte an dieser Stelle hier nur kurz checken, ob Du Julian Barnes‘ neuen Roman ggf auf dem Radar hast, einen biografischen Roman über das Leben Schostakowitschs ? Beim Lesen dachte ich, der Roman könne etwas für Dich sein …
    Liebe Grüße 🙂

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